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Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb

Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb – Wer bei Kunden punkten will, muss deren Erwartungen an Auswahlmöglichkeit und Breite des Produktsortiments erfüllen. Händler, die keinen Zugang zu nachgefragten Produkten oder Leistungen haben, begegnen Schwierigkeiten, neue Kunden zu gewinnen und Kunden zu halten. Gleichzeitig gehen viele Anbieter dazu über, ihre Produkte im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems zu vertreiben. Händler, die hierzu nicht zugelassen werden, werden nicht beliefert und schauen in die Röhre. Allerdings können Händler unter bestimmten Voraussetzungen den Spieß umdrehen und Belieferung verlangen. Als Fachanwalt mit dem Beratungsschwerpunkt Kartellrecht berate ich viele Mandanten bei der Einschätzung und Durchsetzung ihrer kartellrechtlichen Ansprüche nach dem §§ 19, 20 GWB, Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie der Vertikal-GVO und der Vertikal-Leitlinien. Lesen Sie hier allgemeine Erläuterungen zum Belieferungsanspruch.

Ein Belieferungsanspruch ist das Recht, zu marktüblichen Konditionen beliefert zu werden. Dieses Recht ergibt sich aus einem Vertrag oder aus dem Kartellrecht. Ein marktbeherrschendes Unternehmen ist kartellrechtlich verpflichtet, zu liefern. Bei sortimentsbedingter Abhängigkeit besteht ebenfalls ein kartellrechtlicher Belieferungsanspruch. Wo ein Belieferungsanspruch besteht, darf ein Vertrag nicht gekündigt werden.

Was ist Selektiver Vertrieb?

Der selektiver Vertrieb ist ein besonderes Vertriebssystem. Der Hersteller oder Importeur beschließt, seine Produkte nur über bestimmte Händler im Rahmen seines selektiven Vertriebsnetzes anzubieten. Nur mit diesen Händlern wird der Anbieter auch einen Vertrag abschließen. Diese Händler müssen, nachdem der Vertrag abgeschlossen ist, die festgelegten Kriterien erfüllen, nach denen der Anbieter die Händler „selektiert“, also auswählt, und für den Vertrieb autorisiert.

Typische Auswahlkriterien oder -voraussetzungen sind als Beispiel der Einsatz und die Fortbildung von Personal, das auf die Produkte geschult ist oder die Produktpräsentation im stationären Handel und im Online-Shop des Händlers. Hierzu zählen auch Vorgaben für den Internethandel, das Vorhalten eines Mindestsortiments oder Wartungs- und Serviceleistungen. Diese Vorgaben sind vertikale Beschränkungen und nach Kartellrecht zulässig, wenn sie im Vertrag niedergelegt sind.

Der Hersteller bzw. Importeur verpflichtet sich in dem Vertrag, nur solche Händler durch einen Händlervertrag zu autorisieren, die diese Kriterien erfüllen. Alle anderen Händler darf er weder direkt noch mittelbar, etwa über das Ausland, beliefern. Die ausgewählten Händler sagen im Gegenzug im gleichen Vertrag zu, während der Vertragslaufzeit die qualitativen Kriterien zu erfüllen. Zugleich müssen sie sich wie der Anbieter verpflichten, die Produkte nicht an nicht-autorisierte Händlerkollegen abzugeben. Dies ist zwar eine vertikale Beschränkung ihrer Möglichkeiten, für die Belieferung anderer Händler.

Bei einem solchen Vertrag für den selektiven Vertrieb handelt es sich um eine vertikale Vereinbarung, die kartellrechtlichen Vorgaben, insbesondere des GWB und der Vertikal-GVO entsprechen muss. Dies gilt auch bei internationalen Sachverhalten. Hierdurch sichert der Hersteller bzw. Importeur, dass nur solche Händler zum Zug kommen, die ein starkes Commitment für den markengerechten Vertrieb der Produkte abgeben und in den Vertrieb investieren. Die Händler auf der anderen Seite werden in ihren Investitionen geschützt. Denn Kunden können die Produkte nur bei Händlern beziehen, die ebenfalls in die Ladenausstattung und den Webshop investiert haben.

Die Lücken im selektiven Vertrieb

Soweit die Theorie. In der vertrieblichen Praxis ist die Situation oft ganz anders. Zum einen beklagen viele Händler die Situation, dass sie aus ihrer Sicht zwar die jeweiligen Auswahlkriterien vollständig erfüllen, aber trotzdem keinen Händlervertrag angeboten bekommen. Oft bekommen die ausgeschlossenen Händler dann zu hören, dass sich der Hersteller bzw. Importeur für einen Maximalzahl an Händlern entschieden hat und diese Zahl bereits erreicht ist.

Zum anderen haben Händler das Gefühl, dass sie keine „faire Chance“ bekommen, um die Voraussetzungen für einen selektiven Vertriebsvertrag zu erfüllen. Oft lässt sich beobachten, dass autorisierte Händler, die einen Händlervertrag erhalten haben, die Auswahlkriterien gar nicht erfüllen. Hinweise hierauf finden sich oft bei der Ladengestaltung und der Produktpräsentation im Webshop. Hier liegt also eine offensichtliche Ungleichbehandlung vor. Hersteller argumentieren dann oft, dass sich Lücken im Vertriebssystem nicht ausschließen lassen.

Oft kann auch der Eindruck entstehen, dass ein Markenhersteller ein selektives Vertriebssystem nur „vorschiebt“, um seine Interessen bei gefügigen Händlern durchzudrücken. Schließlich gibt es Konstellationen, in denen ein Produkt eines Anbieters sehr bekannt und nachgefragt ist. Die Kunden erwarten dann, dass ein Händler so gut sortiert ist, dass er dieses Produkt führt. Der Händler ist dann davon abhängig, dass er ein bestimmtes Produkt oder gar ein bestimmtes Sortiment anbieten kann.

Wie ist nun die Rechtslage? Muss ein Händler akzeptieren, dass er keine Vertrag bekommt bzw. nicht beliefert wird? Kann er sich darauf berufen, dass er ungleich behandelt wird? Denn möglicherweise erfüllt er tatsächlich alle Auswahlkriterien. Er müsste dann wie alle anderen autorisierten Händler auch einen Vertrag erhalten. Zudem ist es wenig überzeugend, wenn ein Hersteller oder Importeur einen Vertragsschluss oder die Belieferung verweigert, weil ein interessierter Händler die Auswahlkriterien nicht erfüllt, der Hersteller aber nach Vertragsschluss offenbar bei den autorisierten Händlern nicht mehr „so genau hinschaut“. Darf ein mächtiges Unternehmen seine Marktmacht ausnutzen und quasi willkürlich Händler von der Belieferung ausschließen? Genauso interessant ist die Frage, ob bei Abhängigkeit, ein bestimmtes Produkt führen zu müssen, ein Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb besteht.

Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb – auf die Stärke kommt es an

Ob im Fall eines lückenhaften selektiven Vertriebssystem oder bei Abhängigkeit ein Belieferungsanspruch besteht, hängt von der Marktstärke des Anbieters ab. Im Grundsatz gilt Vertragsfreiheit, auch bei selektiven Vertriebssystemen. Jeder Hersteller bzw. Importeur kann sich daher erst einmal frei aussuchen, mit wem er einen Vertrag abschließen und wen er mit seinen Produkten beliefern möchte. Hieran ändert auch der Vertrieb über ein selektives Vertriebssystem nichts. Denn bei einem selektiven Vertriebssystem stellt sich die Frage, ob es vertriebskartellrechtlich zulässig ist oder ob der Unternehmer in unzulässiger Weise den Wettbewerbs zwischen den Händlern beschränkt.

Das Vertriebskartellrecht, also die Vertikal-GVO und die Leitlinien, beantworten jedoch nicht die Frage, ob ein Anspruch auf Abschluss eines Vertrags oder Belieferung besteht. Durch die Einführung eines selektiven Vertriebssystems beschränkt der Unternehmer daher nicht automatisch seine Vertragsfreiheit. Vertriebskartellrechtlich bewegt er sich zwar auf sicherem Eis, wenn er allen Händlern einen Vertrag anbietet, die seine Auswahlkriterien erfüllen. Ein selektives Vertriebssystem kann jedoch auch dann zulässig sein, wenn er dies nicht tut.

Der Hersteller bzw. Importeur ist auch frei darin, die Auswahlkriterien so festzulegen, wie er das unternehmerisch für richtig hält. Die Auswahlkriterien dürfen zwar nicht darüber hinausgehen, was objektiv erforderlich ist, um die Produkte zu vertreiben. Ein Verstoß hiergegen führt jedoch nicht zu einem Anspruch auf Vertragsschluss oder Belieferung. Vielmehr kann ein Verstoß zur Unwirksamkeit sämtlicher abgeschlossenen Verträge führen. Ein Anspruch auf Abschluss eines vertriebskartellrechtlich unwirksamen Vertrags existiert jedoch erst recht nicht.

Belieferungsanspruch gegen marktbeherrschende Unternehmen

Allerdings kann sich ein Belieferungsanspruch aus anderen Vorschriften des Kartellrechts außerhalb des Vertriebskartellrechts trotzdem ergeben. Dies ist dann der Fall wenn der Hersteller bzw. Importeur hinsichtlich des jeweiligen Produkts marktbeherrschend ist. Marktbeherrschung liegt nach dem GWB vor, wenn der Marktanteil in Deutschland über 40% liegt. Diese 40% beziehen sich wohlgemerkt nicht auf den gesamten Markt.

Die Frage der Marktbeherrschung im Sinne des GWB meint immer nur ein bestimmten Produktmarkt, also alle Produkte, die untereinander austauschbar sind. So kann ein Unternehmen im Vergleich zu anderen einen geringen Gesamtumsatz und bei vielen Produkten nur Mitläufer sein, aber bei einem bestimmten Nischenprodukt trotz seiner vergleichsweisen geringen Größe eine marktbeherrschende Stellung innehaben.

Aufgrund von kartellrechtlichen Vorgaben einen Vertrag abschließen zu müssen, kann misslich sein. Marktbeherrschende Unternehmen sind zwar auch berechtigt, ihre Produkte im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems zu vertreiben. Insbesondere steht es einem marktbeherrschenden Unternehmen  grundsätzlich frei, für eine Aufnahme in sein Vertriebssystem sachlich angemessene Anforderungen zu stellen, sofern es diese einheitlich und diskriminierungsfrei anwendet (BGH, Urteil vom 24.11.2020 − KZR 11/19).

Marktbeherrschende Unternehmen sind aber nach dem GWB in ihrer Freiheit, einen Vertrag abzuschließen, eingeschränkt: Erfüllt ein Händler die Auswahlkriterien eines marktbeherrschenden Unternehmens (mehr 40% Marktanteil auf einem bestimmten Produktmarkt), hat der Händler einen Anspruch auf Abschluss eines Händlervertrags und auf Belieferung. Für marktbeherrschende Unternehmen ist daher die zahlenmäßige Begrenzung ihrer Händler schwer durchzusetzen, weil hierin oftmals automatisch eine Diskriminierung derjenigen Händler zu sehen ist, die die Selektionsvoraussetzungen erfüllen, aber (noch) keinen Händlervertrag angeboten bekommen haben.

Ein solcher Anspruch auf Vertragsschluss und Belieferung kann sich bei einem markbeherrschenden Unternehmen aber auch bei einem lückenhaften selektiven Vertriebssystem ergeben. Denn für ein marktbeherrschendes Unternehmen gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz und damit das Diskriminierungsverbot nach dem GWB. Ein Vertriebssystem wird nur dann diskriminierungsfrei umgesetzt, wenn es lückenlos praktiziert wird. Ein marktbeherrschendes Unternehmen muss daher auf die Lückenlosigkeit seines Vertriebssystems achten und die autorisierten Händler überwachen. Duldet es Lücken und die Abweichungen von Auswahlvoraussetzungen, kann es die Einhaltung dieser Voraussetzungen nicht von nicht interessierten Händlern verlangen.

Belieferungsanspruch gegen marktstarkes Unternehmen

In der Praxis ist es regelmäßig schwer nachzuweisen, dass ein bestimmtes Unternehmen mit einem bestimmten Produkt einen Marktanteil von über 40% hat. Beim Belieferungsanspruch und selektiver Vertrieb durch ein marktstarkes Unternehmen gilt allerdings ebenfalls das Diskriminierungsverbot. Ein Unternehmen ist unabhängig von seinem Marktanteil marktstark, wenn andere Unternehmen von ihm abhängig sind.

Dies ist dann der Fall, wenn ein Händler für ein bestimmtes Produkt keinen Zugang zu anderen zumutbaren Lieferquellen, sprich anderen Herstellern, hat. Je mehr Händler dabei das Produkt eines Herstellers beziehen, desto eher spricht dies für eine hohe Distributionsrate. Je höher die Distributionsrate und je geringer zumutbare Lieferalternativen sind, desto eher wird produkt- oder sortimentsbedingte Abhängigkeit vorliegen.

Die Distributionsrate ist dabei ein wichtiges Indiz für die Abhängigkeit (OLG Düsseldorf, Urteil v. 14.04.2021 – VI U (Kart) 14/20; BGH, Urteil v. 12.12.2017 – KZS 50/15 Rimowa) und hilft dem Händler bei seiner Frage nach seinem Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb. Das Bundeskartellamt und die Europäische Kommission werden bei den Ansprüchen auf Abschluss eines Vertrags und auf Lieferung bzw. unterlassen der Kündigung übrigens nicht tätig. Sie werden regelmäßig an einen Rechtsanwalt für Kartellrecht verweisen.

Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb – Auswirkungen der neuen Vertikal-GVO

Am 1. Juni 2022 wird die neue so genannte Vertikal-GVO in Kraft treten. Lesen Sie hier Einzelheiten zur neuen Vertikal-GVO 2022. Der Entwurf dieser Gruppenfreistellungsverordnung sowie der Vertikal-Leitlinien ist bereits veröffentlicht. Die Vertikal-GVO 2022 ist eine europäische Verordnung. Sie regelt, welche Beschränkungen dem Handel beim Vertrieb von Markenprodukten auferlegt werden dürfen. Sie enthält viele Neuerungen zum Thema Plattformökonomie, Online-Handel und dem selektiven Vertrieb.

Auf die Frage, ob einem ausgeschlossenen Händler ein Händlervertrag oder die Belieferung angeboten werden muss, gibt die neue Vertikal-GVO allerdings genauso wenig eine Antwort wie die gegenwärtige geltenden vertriebskartellrechtlichen Regelungen. Auch nach dem 1. Juni 2022 wird sich ein Belieferungsanspruch daher nur ausnahmsweise gegen ein marktbeherrschendes oder marktstarkes Unternehmen ergeben können.

Die neue Vertikal-GVO erweitert jedoch die Möglichkeiten des Herstellers bzw. Importeurs, ihr selektives Vertriebssystem zu schützen und den Produktvertrieb zusätzlich zu steuern. Insbesondere können Graumarktimporte besser eingeschränkt werden. Hierdurch werden die Möglichkeiten derjenigen Händler, die nicht autorisiert werden, beschränkt, die Produkte gleichwohl über „alternative Quellen“ zu beziehen. 

Kartellrechtliche Beratung

Zum Thema Belieferungsanspruch beim selektiven Vertrieb stellen sich komplexe rechtliche Fragen. Als Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht mit einem Schwerpunkt auf Kartellrecht berate ich Sie und Ihr Unternehmen bei der Ausgestaltung Ihres Vertriebssystems nach der neuen GVO und der qualitativen und quantitativen Kriterien für Ihre zugelassenen Händler, um den Verkauf Ihrer Produkte im Internet, insbesondere online-Plattformen, rechtlich abzusichern. Ob ein kartellrechtlicher Belieferungsanspruch besteht, werde ich Ihnen ebenfalls gerne erläutern. Bevor Sie und der Händler den Vertrag abschließen, berate ich Sie auch zu den rechtlich zulässigen Vorgaben zum Internethandel an sich, insbesondere die Nutzung von Drittplattformen, sowie zum Online-Shop des Händlers. Bestimmte Pflichten können auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen festgelegt sein.

Anwalt Gesellschaftsrecht und Handelsrecht

Dr. Andrelang, LL. M.

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